Berlin / Berge, 11. April 2022. Es sind Bilder die verstören: Menschen fliehen vor den Schrecken des Krieges in ihrer Heimat – mitten in Europa, erschöpft und voll Sorge um ihre Lieben, die in der Ukraine blieben. Doch manchmal gibt es einen kleinen Lichtblick, so wie für Natalia P.* (38) aus Luzk (Oblast Wolyn) im Nordwesten des Landes. Sie konnte ihr Praktikum beim Institut für Agrar- und Stadtökologische Projekte an der Humboldt-Universität zu Berlin (IASP), einem Mitglied der Zuse-Gemeinschaft, vorziehen und einen Teil ihrer Familie mit nach Berge bei Nauen in Sicherheit bringen.
Es ist kalt am frühen Morgen, trotz der strahlenden Sonne am wolkenfreien Himmel. Natalia P. kniet auf einem Versuchsfeld der Versuchsstation Berge des IASP. Zusammen mit ihrer Tochter Sofia pflanzt sie mit klammen Fingern Samen in die Erde: „Die Samen stammen aus der Ukraine. Es sind Wildkräuter. Ich habe sie selbst gesammelt. Beim IASP möchte ich lernen, die Kultivierung der Pflanzen zu optimieren und mein Wissen über Wildkräuter und Heilpflanzen vertiefen.“ Dazu Dr. Andreas Muskolus, Leiter der Versuchsstation: „Auf unserer pflanzenbaulichen Versuchsstation bieten wir international Praktikumsplätze an. Über Austauschorganisationen wie Erasmus, den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft oder die Schorlemer-Stiftung kommen so jedes Jahr fünf bis sieben Praktikant*innen aus aller Welt zu uns, meist Student*innen.“
Natalia P. bewarb sich vergangenen Oktober für ein dreimonatiges Praktikum über das Erasmusprogramm für Jungunternehmer beim IASP. Dieses bietet Menschen mit einer Geschäftsidee oder jungen Unternehmer*innen die Möglichkeit, im europäischen Ausland einem „Seniorunternehmer“ über die Schulter zu schauen. Doch der Kriegsausbruch in der Ukraine verschärfte die Situation für Natalia P. und ihre Familie dramatisch: „Acht Raketen wurden bereits am ersten Kriegstag auf den Flughafen abgefeuert, in dessen Nähe wir leben. Wegen der Luftangriffe mussten wir ständig in den Keller.“ Wenige Tage später fuhr der Vater die Jungunternehmerin, ihre Schwägerin und die drei Kinder im Auto an die polnisch-ukrainische Grenze, die sie zu Fuß überquerten. Nach einer siebenstündigen Zugfahrt nach Berlin holte Muskolus die Familie dort ab. Er erinnert sich: „Anfang März erhielt ich die Anfrage, ob der Aufenthalt vorgezogen werden und ob sie mit ihrer Familie kurzfristig anreisen könne. Zum Glück konnte in Berge eine leerstehende Wohnung gefunden werden, die innerhalb von zwei Tagen mit großer Hilfe des Ortes und des Pfarramtes möbliert wurde. Über die überwältigende Hilfe und die herzliche Aufnahme im Ort berichtete sogar die Märkische Allgemeine Zeitung – und wir sind den Menschen hier für ihre Unterstützung sehr dankbar.“
„Inzwischen ist die Versuchsstation für alle fünf eine Art Anlaufstelle geworden“, gibt Muskolus einen Einblick in den für alle Beteiligten ungewohnten, neuen Alltag. „Und die Mitarbeiter*innen unseres Institutes in Berlin – darunter zwei russischstämmige Kolleginnen – kümmern sich rührend.“ Dennoch ist die Situation für Natalia P. und ihre Schwägerin noch immer nicht ganz angstfrei und belastend: Beide Mütter mussten ihre Ehemänner und Eltern in der Ukraine zurücklassen – doch Natalia P. hat für ihre Zukunft eine klare Vorstellung: „Wir wollen zurück zu unserer Familie in Luzk, wir wollen unser Land wieder aufbauen und ich möchte mein kleines Unternehmen voranbringen.“
Ihr Unternehmen hat sie vor gut einem Jahr gegründet: ihren Onlineshop „Volynfito“. Dort verkauft sie Tees und Beerenmischungen. „Gesunde Lebensmittel und Ernährung waren in der Ukraine bislang gar kein Thema. Doch die jungen Leute bevorzugen zunehmend natürliche Lebensmittel, achten auf ihre Gesundheit“, umreißt sie ihre Geschäftsidee. Produziert hat Natalia P. ihre Tees bisher aus selbstgezogenen Heilpflanzen sowie Kräutern und Beeren aus den Wäldern: „Fern der Stadt haben wir mitten in der Natur mehrere Hektar Land. Das ist der ideale Platz, um dort die Heilkräuter anzubauen. Und die Wälder liegen weit entfernt von jeder Industrie.“ Das IASP wird Natalia P. nun unterstützen, den Anbau der Wildkräuter zu optimieren und ihre Umsätze zu steigern – ein Beispiel für den erfolgreichen internationalen Austausch und den Transfer von der Wissenschaft in innovative, marktfähige Produkte für den Mittelstand.