Vor einer Sollbruchstelle im Corona-Wiederaufbaufonds der Europäischen Union warnt die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer. Im Interview mit der Zuse-Gemeinschaft kritisiert die FDP-Politikerin, dass es das Instrument für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) nicht ins Abschlussdokument des Rates von Mitte Juli schaffte. Kritisch äußert sich Beer zu den Haushaltsbeschlüssen der EU-Staats-und Regierungschefs. "Es wurde bedauerlicherweise die Chance verpasst, das EU-Budget passend zu zukunftsweisenden politischen Prioritäten auszustatten und aufzustellen", erklärt Beer. Sie moniert die bei Bildung, Forschung und Innovation erfolgten Mittelkürzungen: "Binnenmarkt, Innovation und Digitales werden mit rund anderthalb Milliarden Euro vergleichsweise mit kleiner Münze ausgestattet, wenn man bedenkt, dass Agrarpolitik und Kohäsion-Fonds wieder üppig mit mehreren hundert Milliarden zu Buche schlagen."
Die finanziellen Weichenstellungen beim zentralen EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe sieht die Liberale vor diesem Hintergrund kritisch: "Problematisch sehe ich nicht die Struktur, sondern die finanzielle Ausstattung, die weit weniger Durchschlagskraft erwarten lässt als der ursprüngliche Vorschlag", sagt Beer. Sie gehört dem Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europaparlaments an. Nicola Beer ist Mitglied im Senat der Zuse-Gemeinschaft.
Frau Beer, vor gut einem Jahr sind Sie vom Bundestag in das Europäische Parlament gewechselt. Sie sind dort Vizepräsidentin und im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE). Welche konkreten Erwartungen haben Sie aus forschungs- und innovationspolitischer Sicht an die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020?
Beer: Wir müssen unsere Wirtschaftspolitik und damit auch die Förderung von Innovation und Forschung neu ausrichten: Auf die Zukunft. Viel zu sehr ruht sich Europa auf schon Erreichtem aus. Wir müssen weg von den großen, aber auch starren industriellen Einheiten, hin zum Mittelstand. Natürlich ist erfreulich, dass wir noch industrielle Kerne in Europa haben. Wenn wir uns aber die Börsenkapitalisierung der großen Unternehmen in Europa anschauen, merken wir sehr schnell, dass wir dabei sind, die Zukunft zu verschlafen.
Künstliche Intelligenz, Biotechnologie, Halbleitertechnologie finden bei uns in Europa nicht ausreichend statt. Dafür müssen wir Innovation und Forschung fördern. Ich will, dass Europa 2030 die innovativste Region der Welt ist. Damit der Wohlstand wieder wächst.
Treiber von Innovation ist der Mittelstand: KMUs sind agil, beweglich, reagieren schnell auf Veränderungen. Sie schaffen Neues, ebenso wie ihre Vorväter im letzten Jahrhundert, von deren Innovationen wir heute noch zehren. Gleichzeitig sind sie in Krisenzeiten besonders verletzlich. KMU’s müssen bei Europas Wiederaufschwung im Mittelpunkt stehen. Als Renew Europe Fraktion fordern wir daher, dass in allen Bereichen der Mittelstand Priorität in einer postpandemischen Landschaft hat: Mehr Möglichkeiten bei öffentlichen Vergaben, besserer Zugang zu Finanzmitteln, Sicherstellung pünktlicher Zahlungen an KMU, Verringerung des Verwaltungsaufwands, mehr Investitionen in ganz Europa und ein unterstützendes, KMU-freundliches gesetzgeberisches Umfeld. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss sich nicht zuletzt deshalb unter ihrem Vorsitz für einen KMU-TüV als Voraussetzung für neue EU-Richtlinien einsetzen: Jede neue Vorschrift muss darauf ausgerichtet sein, den Mittelstand zu fördern.
Die EU ringt um den Haushalt von 2021-2027 ebenso wie um den Wiederaufbau nach der Corona-Krise. Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs hat einen Kompromiss gebracht. Wo sehen Sie Kompromisslinien und wo rote Linien? Wie beurteilen Sie den gefundenen Kompromiss?
Beer: Es wurde bedauerlicherweise die Chance verpasst, das EU-Budget passend zu zukunftsweisenden politischen Prioritäten auszustatten und aufzustellen. Als zentrales politisches Instrument spiegelt der EU-Haushalt, wofür Europa wie viel Geld in die Hand nehmen will. Vor diesem Hintergrund ist es kein gutes Ergebnis für Bildung, Forschung und Innovation, denn gerade in diesen Bereichen wurde ordentlich gekürzt. Binnenmarkt, Innovation und Digitales werden mit rund anderthalb Milliarden Euro vergleichsweise mit kleiner Münze ausgestattet, wenn man bedenkt, dass Agrarpolitik und Kohäsion-Fonds wieder üppig mit mehreren hundert Milliarden zu Buche schlagen. Technologieführerschaft und ein resilientes, krisenfestes Europa ist hier zwar im Inhaltsverzeichnis der Krisenbewältigung, aber anstelle eines ausführlichen Kapitels gibt es nur Stichpunkte. Das ist mir eindeutig zu wenig.
Positiv sehe ich, dass das Verhältnis zwischen Zuschüssen und KrediteDas Europaparlament in Straßburg, wo die meisten Sitzungen des Plenums stattfinden. Copyright: European Union 2020, Bildquelle: EP/ Christian Creutz n deutlich korrigiert wurde, zugunsten von rückzahlpflichtigen Krediten. Hier hat der niederländische Mark Rutte eine maßgebliche Rolle gespielt, an der Spitze der, mit Finnland, nun „Sparsamen Fünf“. Dass er sich nicht gescheut hat, die Rolle des „bad cop“ zu übernehmen trotz massiven politischen Gegenwinds, rechne ich ihm persönlich hoch an. Das EU-Budget muss schlussendlich die EU einen, darf sie nicht spalten. Wenn es zu viele Zuschüsse gibt und dadurch gefährliche anti-europäische Fliehkräfte im Norden frei werden, dann ist das genauso beunruhigend und kann ebenso für eine Erosion der europäischen Demokratie sorgen, wie wenn der Süden rot sieht. Jetzt ist meines Erachtens ein ausgewogenerer Kompromiss für beide Seiten gefunden, den alle mittragen können und das ist in Europa entscheidend.
In ihrer Fraktion Renew Europe sitzen die Abgeordneten von Macrons Partei La République en Marche ebenso wie Vertreter aus Spanien und Italien und der „Sparsamen Fünf“ aus Nord- und Mitteleuropa. Welche Schnittmenge haben Sie da beim strittigen Thema Corona-Wiederaufbaufonds?
Beer: Die Schnittmenge liegt klar bei Innovation und Mittelstand. Gerade bei KMU sind wir uns von Spanien über Deutschland, Frankreich, Tschechien bis hin nach Schweden einig: Mittelständler verdienen unsere vollste Aufmerksamkeit, müssen deshalb sichtbar im Mittelpunkt der EU-Pläne stehen. Dieser Schwerpunkt muss selbstverständlich auch finanziell unterfüttert sein. Leider sehen wir hier im vorliegenden Ergebnis des Sondergipfels eine Schwachstelle: Das KMU-Instrument, das sogenannte „Solvency Support Instrument“, das der (Re-)Kapitalisierung des krisengebeutelten Mittelstands dienen soll, hat es nicht in das Abschlussdokument der Staats- und Regierungschefs geschafft. Bleibt es dabei, wäre das aus meiner Sicht in der Tat eine Sollbruchstelle für den Wiederaufschwung. Wir können unsererseits das Volumen nicht mehr ändern, aber dafür kämpfen, dass die vorgesehenen Gelder anders, also besser und zukunftsgerichteter, aufgeteilt werden. Diese Möglichkeit werden wir auf jeden Fall nutzen, bevor das EU-Parlament grünes Licht gibt.
Zudem hat Renew Europe ein gemeinsames Verständnis, dass Europa nur stark sein kann, wenn alle Regionen an Wettbewerbsfähigkeit zulegen, um so den Standort Europa weltweit attraktiver zu gestalten. Dabei eint uns auch, dass die Tiefe der Krise als historisch zu bezeichnen ist und es in einer Ausnahmesituation auch Ausnahmehilfe geben muss, das gebietet unsere europäische Solidarität. Niemand im EU-Parlament will anderen EU-Staaten dabei zusehen, wie sie wirtschaftlich weit abrutschen. Das wäre Treibsand für alle. Nur wie diese Hilfen gegeben werden und was dafür geleistet werden muss, da unterscheiden wir uns zwischen den verschiedenen Fraktionen des EP in unseren Auffassungen.
Während sich die Ausschüsse im Bundestag eng an den Zuschnitt der jeweiligen Ministerien anlehnen, sieht es in der EU anders aus. Bildung und Forschung sind dort getrennt, die Forschung dafür im Ausschuss mit Industriethemen gepaart. Welchen Zuschnitt halten Sie für besser?
Beer: Wenn wir die Stärkung der europäischen Industriestrategie durch den digitalen und ökologischen Wandel vorantreiben wollen, damit sich die europäische Wirtschaft global behaupten kann, müssen wir Forschung, Innovation und Industrie gemeinsam denken und auch gemeinsam behandeln. Denn sie bedingen sich gegenseitig. Die inhaltliche Zusammenlegung auf europäischer Ebene hat meines Erachtens also ihren Charme, zumal es keine europäische Kompetenz für Bildung gibt; hier können wir die Mitgliedstaaten nur begleiten, z.B. beim Austausch von Wissenschaftlern, Studierenden, Schülern und auch bei Best Practice.
Gegenüber dem bisherigen großen EU-Rahmenprogramm Horizon 2020 werden im neuen Forschungsprogramm Horizont Europa neue inhaltliche Vorgaben gemacht. Neben den neu formierten inhaltlichen Säulen, darunter die Säule 2 „Globale Herausforderungen und Europäische Industrielle Wettbewerbsfähigkeit“ soll es Missionen geben, die stark auf Klima-, Umwelt- und Gesundheitsthemen abheben. Wie beurteilen Sie diese Struktur?
Beer: Logik, Herangehensweise und die allgemeine Struktur bleiben bestehen. Das ist für die Kontinuität wichtig. Das neue Programm wird in Clustern strukturiert, Wissenschaftsexzellenz, spezielle Fördergebiete wie Klima und Gesundheit etwa.
Die dritte Säule widmet sich gänzlich dem Schwerpunkt “Innovatives Europa”. Europäische Innovationen und alle denkbaren Innovationsformen werden hiermit gezielt unterstützt. Ziel ist es, für soziale, technologische und grundsätzliche Neuheiten Möglichkeiten zu schaffen, schnell auf den Markt zu kommen. Problematisch sehe ich nicht die Struktur, sondern die finanzielle Ausstattung, die weit weniger Durchschlagskraft erwarten lässt als der ursprüngliche Vorschlag.
Diese Fördermöglichkeit kommt besonders Forschungseinrichtungen, KMUs und Start-Up Unternehmen zugute. Sie haben dadurch auch neue Instrumente wie Acceleratoren und Pathfinder an die Hand bekommen. Der einzurichtende Innovationsrat stellt eine Neuerung dieser Achse dar und wird eine zentrale Stelle für europäische KMUs sein.
Da wir die KMUs in einer zentralen Rolle sehen, halte ich diese Struktur für grundlegend richtig, da sie spezifisch und maßgeschneidert dort ansetzen kann, wo sie am dringendsten gebraucht wird und den größten Mehrwert schaffen kann.
Dieses Interview erschien in den ZUSE TRANSFERNEWS vom 07. September 2020.