Es wird behauptet, Industrieforschung sei keine Wissenschaft, sondern Wald- und Wiesenforschung, bei der Menschen ohne Sinn und Verstand rein empirisch an Knöpfen drehen und schauen, was passiert, um kommerzielle Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Da stecke zwar Forschung drin, aber keine Wissenschaft. Industrieforschung als reine Empirie? Ihre Ergebnisse das Produkt glücklichen Zufalls?
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Wissenschaft und Forschung genießen einen hohen Ruf: Repräsentative Umfragen des Wissenschaftsbarometers belegen, dass die Mehrheit der Befragten Wissenschaft und Forschung „voll und ganz“ beziehungsweise „eher“ vertraut. Bittet man Menschen um spontane Gedanken zu Wissenschaft und Forschung, so nennen sie zwei klangvolle Namen: Max-Planck-Gesellschaft und Fraunhofer. Beobachtet man Leitmedien, so fällt auf, dass diese regelmäßig über spektakuläre wissenschaftliche Entdeckungen vor allem dieser Akteure berichten. Einerseits belegt das den hohen öffentlichen Stellenwert von Wissenschaft und Forschung. Andererseits dokumentiert es den selektiven Blick auf Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung; diese sind aber nur zwei Forschungsbereiche, nicht „die Wissenschaft“ als Ganzes.
Industrieforscher sprechen auch die Sprache der Wirtschaft
Was aber ist Wissenschaft? Was kennzeichnet wissenschaftliches Handeln? Bis heute geht die Wissenschaftsphilosophie diesen Fragen nach und hat Kriterien zur Identifikation entwickelt. Demnach ist Wissenschaft jede Tätigkeit mit dem Ziel, geplant, zielgerichtet und systematisch begründetes, überprüfbares, irrtumsfreies, nachvollziehbares Wissen zu erarbeiten und wieder infrage zu stellen sowie dies zu dokumentieren und zu vermitteln. Ähnlich beschreibt das Bundesverfassungsgericht wissenschaftliche Tätigkeit als „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter, planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“.
Industrieforschung basiert auf erkenntnisgewinnorientierter Grundlagenforschung, die Zusammenhänge wissenschaftlich durchdringt und formuliert, fachlich begutachtet und für die wissenschaftliche Welt publiziert. Im Gegensatz zur Grundlagenforschung widmet sie sich – aus deren Sicht einfachen –, aus der Industrie kommenden Fragen unter den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Umfangreiche Evaluierungen sichern Standards und Qualität. Interessant ist, dass die Wissenschaftler in der Industrieforschung auch die Sprache der Wirtschaft sprechen, der es weniger auf Publikationen und Peer Reviews ankommt: Sie kennen die Märkte, wissen um den Druck von Unternehmen, eher als der Mitbewerber anbieten zu müssen und scheuen sich nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse in wirtschaftlichen Erfolg umzuwandeln.
Mittlerin zwischen den Welten
Industrieforschung baut die Brücke aus der Wissenschaft in die Wirtschaft, indem sie beide Bereiche zusammenbringt und mit fokussierter Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung ergänzt. Das erschließt vor allem kleinen und mittelständischen Unternehmen den Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, ermöglicht wissenschaftlich fundierte Produkte und Dienstleistungen. Getragen wird die Industrieforschung von gemeinnützigen, außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen (IFE), die Wert auf langfristige, wissenschaftliche Kompetenz legen. In der Regel erfolgt sie projektbasiert, ihre Forschungsergebnisse sind der Allgemeinheit zugänglich.
Diese Rolle als Mittlerin zwischen den Welten sowie die Verwechslung mit industrieller Forschung begründen die skizzierten Missverständnisse: Industrielle Forschung findet jedoch unternehmensintern in F & E-Abteilungen sowie bei Produktentwicklern statt, um Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Ihre Ergebnisse kommen allein Unternehmen beziehungsweise Auftraggebern zugute. Industrieforschung schließt als vorwettbewerbliche Forschung hingegen an Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung an und ist ein gleichrangiger, wissenschaftlicher Forschungsbereich – wenn auch nicht im Elfenbeinturm zu Hause.
IFE erhalten keine milliardenschwere institutionelle Förderung
Sie ist vielleicht etwas kleinteiliger. Mehr aufs technische Detail ausgerichtet. Offener für die Kapitalisierung ihrer Erkenntnisse durch Unternehmen und Produktentwickler. Damit trägt sie erheblich zum Gelingen gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Transformationsprozesse bei – und sollte aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung idealiter als transfer- und innovationsorientierte Forschung bezeichnet werden.
In jedem Fall lohnt noch ein Blick auf ihre Finanzierung, denn sie basiert in aller Regel auf Projekten, die lediglich anteilig mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. IFE müssen daher stets auch Mittel aus eigenwirtschaftlicher Arbeit generieren; es gibt für sie keine milliardenschwere, institutionelle Förderung mit jährlichen Aufwüchsen. Das bremst die transfer- und innovationsorientierte Forschung im Vergleich zu ihren Schwestern, behindert den Transfer aus Wissenschaft und Forschung in die Wirtschaft und limitiert das Potenzial der (mittelständischen) Wirtschaft Deutschlands im internationalen Vergleich.
Es wird also Zeit, vom verächtlichen, abschätzigen Blick auf die transfer- und innovationsorientierte Forschung abzusehen, das Pfund zu erkennen, das in den weit über einhundert Einrichtungen für die deutsche Wirtschaft schlummert sowie deren Potenzial (endlich) zu entfesseln. Nur so kann es gelingen, dass wissenschaftliche Ergebnisse kontinuierlich zu wirtschaftlichem Erfolg und gesamtgesellschaftlichem Wohlstand führen.
Der Text erschien zuerst bei Table.Media im Research.Table #83 am 28. November 2023.