Berlin. Mit Schlagworten wie „Deindustrialisierung“ und „Entwicklungsland“ zeichnen Medien, Wirtschaftswissenschaftler und Verbandsvertreter ein düsteres Bild der Zukunft. Jeder sechste mittelständische Betrieb denkt darüber nach, Deutschland zu verlassen. Darüber sprachen wir mit dem Präsidenten der Deutschen Industrieforschungsgemeinschaft Konrad Zuse e.V., Prof. Martin Bastian.

Herr Prof. Bastian, warum ist die Lage derzeit so bedrohlich für den Mittelstand in unserem Land?

Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Er sieht sich unter anderem bei Innovationen und Transfer zunehmend mit einem kontinuierlichen Anstieg der Komplexität wettbewerbsfähiger Lösungen konfrontiert. Zugleich fehlen den mittelständischen Unternehmen die Ressourcen und die Expertise, dieser Herausforderung wirksam zu begegnen. Weiter dürfen die exorbitant gestiegenen Energiekosten sowie die hohe Inflation nicht vergessen werden. Die KMU geraten so langfristig im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen, verlieren ihre Innovationsführerschaft – und wir werden im Ergebnis Arbeitsplätze und Wohlstand verlieren …

… was für unsere Gesellschaft, die sich einer Reihe grundlegender Transitionsprozesse gegenübersieht, durchaus unangenehme Folgen haben kann. Doch wie können Forschung und Wissenschaft helfen?

Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die potentiellen Auswirkungen des Verlusts von Wohlstand auf unsere Demokratie eingehen; dazu haben sich Sozial- und Politikwissenschaftler in den zurückliegenden Wochen und Monaten bereits ausführlich und kompetent geäußert. Ich möchte stattdessen den Blick auf Innovationen und Transfer lenken. Diese sind für eine international konkurrenzfähige, erfolgreiche, nachhaltige und zukunftsorientierte Wirtschaft unabdingbar: Nur wenn es gelingt, wissenschaftliche Erkenntnisse aus Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung in innovative, marktfähige Produkte und Lösungen umzusetzen, dann bleiben die KMU auch im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig, bleiben sie Technologieführer. Das hält den Motor der Wirtschaft am Laufen.

Bild Bastian 500x300Prof. Martin Bastian, Präsident der Zuse-Gemeinschaft. Foto: SKZ

Doch derzeit ist dieser Motor schwer am Stottern …

Sie spielen auf die dramatisch niedrige Innovatorenquote von nur 22 Prozent an. Das ist in der Tat ein historischer Tiefstand und zugleich Beleg dafür, dass es im Innovationssystem derzeit nicht rund läuft. Wenn sich dieser Trend weiter fortsetzt, dann wird der Mittelstand in absehbarer Zeit auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig und „Made in Germany“ statt eines Gütesiegels, eines Qualitätsmerkmals, – zugespitzt formuliert – eher eine Warnung sein.

Wie können Innovationen und Transfer wieder gesteigert werden?

Zur Verwirklichung eines dauerhaften und tragfähigen Transfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zur Überbrückung dieses „Tal des Todes“, benötigt es erstens potente „Brückenbauer“, zweitens Bedingungen, unter denen diese ihr Potential voll ausspielen können, und drittens mittel- bis langfristige Planungssicherheit.

Nehmen Sie denn aus der Politik Signale wahr, die zu einer Steigerung der Innovatorenquote, zu mehr Innovationen und Transfer führen können?

Die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation der Bundesregierung nimmt einerseits das Problem in den Fokus: Sie benennt mit den in sechs Themenfeldern organisierten inhaltlichen Schwerpunkten die wichtigen Bereiche, in denen umfassende strukturelle Transformationsprozesse anstehen und wichtige Weichenstellungen u.a. zum Erhalt von Wohlstand und Technologieführerschaft für die Zukunft getroffen werden. Andererseits bleiben institutionellen Hemmnisse und Defizite seitens der öffentlichen Hand wie etwa die chronische Unterfinanzierung des Innovationssystems, insbesondere im Bereich der Industrieforschung, eine stetig wachsende und überbordende Bürokratie sowie innovationshemmende Einschränkungen bei den Förderprogrammen bestehen. Das bereitet mir große Sorge!

Muss also die Politik erst neue Strukturen schaffen und Akteure befähigen, um die zu Innovation und Transfer führenden Prozesse einzuleiten?

Grundsätzlich sind die Kompetenzen zur Steigerung von Innovation und Transfer beispielsweise bei den Industrieforschungseinrichtungen sowie den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) längst vorhanden, wurden bislang aber nicht abgerufen bzw. ignoriert. Wir müssen jetzt mit neuem Mindset raus aus dem kurzfristigen, krisenorientierten Modus und mit einer agilen und langfristig über die Legislaturperiode hinaus angelegten Strategie entschlossen handeln. Das bedeutet, tradierte Gewissheiten konsequent in Frage zu stellen – und da sehe ich den „dicksten Brocken“, denn Veränderung liegt nur bedingt in der Natur der Menschen, bereitet ihm mitunter Angst. Doch im Wandel liegen auch große Chancen. Diese müssen Politik, Verwaltung und die Akteure im Innovationssystem kooperativ, partnerschaftlich identifizieren, aufgreifen und umsetzen.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, die jetzt umgesetzt werden müssen?

Konkret müssten u.a. die bislang vernachlässigten Forschungseinrichtungen – insbesondere die industrienahen F&E-Einrichtungen wie die Zuse-Gemeinschaft, aber auch die HAW – massiv gestärkt, etablierte (d.h. positiv evaluierte), transferorientierter F&E-Förderprogramme drastisch aufgestockt und ein langfristig angelegter Pakt zur Verbesserung des Transfers mit kontinuierlichen, überproportionalen Aufwüchsen geschlossen werden. Es geht also um das Heben vorhandener Kompetenzen: Politik muss den Mut haben, Prozesse zu initiieren, die Ermöglichen, die Potentiale entfesseln und innovatives, kreatives Handeln vorantreiben. Dazu brauchen wir nicht immer neue Strukturen und Akteure, sondern Mut und Freiheit! In diese Richtung denkend, wünsche ich mir rasch eine Rejustierung der Zukunftsstrategie, woran wir als Zuse-Gemeinschaft gerne konstruktiv mitwirken.

Vielen Dank für das Gespräch.