An einem grauen Nachmittag im Oktober schellt Markus Kleebauer an der Pforte der Papiertechnischen Stiftung (PTS) in München. Die Straßen im Viertel sind still, das Haus etwas abseits der City ganz ruhig. Denn es ist Feiertag. Der zweite dieser Art in Deutschland. Trotzdem ist der junge, frisch, von der Universität Regensburg promovierte Chemiker zum Vorstellungsgespräch eingeladen, sein erstes dieser Art. Die PTS sucht im Herbst 1991 dringend einen Analytiker. Doch Markus Kleebauer klingelt vergeblich, wartet 30, wartet 45 Minuten auf seine Verabredung. Da will er sich wieder aufmachen, nach Falkenstein in der Oberpfalz, wo seine Eltern wohnen. „Doch da höre ich ein Rumpeln, und es wird doch noch aufgesperrt“, erinnert sich Kleebauer und: „Die PTS war damals im Umbruch, abseits vom Hauptgebäude waren Büro- und Labor-Container aufgestellt.“ In einem von denen saß sein künftiger Chef. „Der hat sich rumgeschlagen mit allem, was da so anfiel: Kunststoffe, Folien, Lacke, Klebstoffe, Druckfarben, viele Reklamationen wurden da bearbeitet“, sagt Kleebauer. Das sollte künftig sein Job sein. Und er war erst einmal zufrieden.
In den Nachwendejahren war es am Arbeitsmarkt auch für Naturwissenschaftler nicht leicht. Keine Spur von Fachkräftemangel. "Es waren unheimlich viele Leute unterwegs. Und die Nähe zur Forschung bei der PTS reizte mich.“ Kleebauer erzählt das mit Blick auf die Elbe. Die letzten drei seiner mittlerweile dreißig Jahre an der PTS hat er in Heidenau bei Dresden verbracht, seit im Frühjahr 2018 der zweite, nach der Wende hinzugekommene Standort der PTS zum einzigen wurde. „Ich habe den Umzug nie bereut. Für mich war es das Beste, ganz klar“, sagt der Projektleiter, der an Wochenenden noch gerne nach Bayern fährt. Zwar sei es das erste Jahr in Sachsen „ein etwas befremdliches Gefühl“ gewesen, bis man sich in einer vertrauten Umgebung gefühlt habe. Doch die jungen Kollegen hätten sehr geholfen, ihn prima aufgenommen.
Für die rund 90-köpfige Belegschaft ist er, zusammen mit IT-Experte Dieter Rockstroh, so etwas wie das Gedächtnis der Stiftung. Und zugleich Experte in Fachfragen. In den vergangenen Jahrzehnten hat er die meisten PTS-Abteilungen durchlaufen, als Mitarbeiter oder in leitender Projektverantwortung. „Davon profitiere ich heute noch, ich war in der Analytik, ich war in der Papierverarbeitung, für die ich mir einiges aneignen musste, später dann und heute beim Streichen und Beschichten.“
Als Projektleiter ist er für die Akquise neuer Vorhaben ebenso zuständig wie man von ihm die kreative, erfolgreiche Suche nach potenziellen Innovationen erwartet. Das ist auch der Anspruch, den er an sich selbst stellt: „Schon relativ früh habe ich an der PTS gesagt, ich warte nicht auf Themen, die mir andere geben: Ich habe immer selbst einen Sack voll Themen parat. Intern muss man dann abstimmen, wo die Prioritäten liegen. Da bin ich offensiv und kreativ.“
Kaffeekapseln aus Papier statt Alu-Clooney
So wie beim Thema Kaffeekapseln. Begleitet durch die Werbung mit George Clooney traten die Aluminiumkapseln ihren Siegeszug durch Küchen und Büroflure an. „In einem unserer Forschungsforen brachte ich die Idee auf, Kaffeekapseln aus Papier zu entwickeln. Der Ausgangspunkt: Den Papp-Kaffeebecher so weiter zu verkleinern, dass er zum Mini-Becher und dann zur Kapsel wird. Wir brachten dann Becherproduzenten, Maschinenhersteller und Papierverarbeiter zusammen und natürlich uns als Forschende ins Spiel. Mit Erfolg“, berichtet der PTS-Projektleiter.
Trendsetter incognito
Gegenüber Kunden in der Industrie versteht er sich mit solchen Impulsen als Ideengeber und Dienstleister und sagt, er sehe es gelassen, wenn sein oder der Name der PTS bei wichtigen Produktneuheiten wegen Geheimhaltungsvereinbarungen nicht auftaucht. Damit müsse man leben. Kleebauer: „Entscheidend für mich ist, dass der Kunde die letzte Phase der Produktentwicklung selbst in die Hand nehmen und meistern kann.“
Andererseits könnte er sich als Incognito-Trendsetter verstehen. Denn Markus Kleebauer will schon mehr als nur Projekt-Akquisiteur und Wegbereiter sein, nämlich Gestalter und auch mal Vordenker mit Weitblick. „Vor 20 Jahren sagte man mir öffentlich auf einer Fachtagung: 'Mit dem Polyethylen werden andere Beschichtungen preislich nicht mithalten können. Deshalb ist es Zeitverschwendung sich mit biogenen Alternativen zu beschäftigen.‘ Heute hat sich das komplett in meinem Sinne gewandelt“, resümiert er mit Blick auf technische Fortschritte einerseits und die Debatte um Müllberge, Mikroplastik und den Willen zur Abkehr vom Erdöl andererseits.
Migration bewirkt Sinneswandel
Die ersten Risse im Image des allseits einsetzbaren Kunststoffs habe Polyethylen mit der erstmals vor rund zehn Jahren entdeckten Migration von Mineralölspuren in Lebensmittelprodukte bekommen, so Kleebauer. Immer noch sind mineralölhaltige Spurenbestandteile ein Problem. Man sei der Ursache „relativ schnell auf die Spur gekommen“, wie der Chemiker in der Rückschau betont. Zur Lösung dieses Krisenthemas seien die beteiligten Branchen nicht einer Meinung gewesen. Aber auf Verbesserungen drängten nicht zuletzt Handelsketten und Markenartikelhersteller. Kleebauer betont die Fortschritte, die angewandte Forschung erzielte, indem sie Ursachenforschung betrieb und Lösungsvorschläge für die Mineralmigration in Verpackungen erarbeitete: „Da waren wir relativ schnell unterwegs, teilweise über staatliche Forschung, teilweise über direkte Kooperationen mit der Industrie.“ Als sinnvoll erwies sich der gute Kontakt mit der Fogra und dem Sächsischen Institut für die Druckindustrie (SID), beides Institute der Zuse-Gemeinschaft, so dass man sich bei diesem Verbraucherschutzthema branchenübergreifend austauschen konnte. Erst kürzlich brachte die Fogra im Auftrag des Umweltbundesamtes eine weitere Studie zum Thema heraus. Der provokante Titel: Wie kommt Mineralöl in die Schokolade?
Arbeit an Aroma-Barriere aus Stärke
Die Gefahr der Mineralölmigration zeigt, wie wichtig wirksame Barrieren für die Produktsicherheit sind. Doch auch in der umgekehrten Richtung, vom Produkt nach außen, muss die Barriere wirken. Dazu gehört, Geruchs- und Geschmacksstoffe in der Verpackung zu halten. „Aktuell arbeiten wir an Beschichtungen auf Stärkebasis zur Optimierung und modellhaften Erfassung der Aroma-Barriere von Verpackungspapieren“, verrät Markus Kleebauer. Die guten Barriereeigenschaften der Stärke seien bekannt, ebenso jedoch ihr Hang zur Sprödigkeit. Der erschwert das problemlose Beschichten und Verarbeiten. Hier steht man noch ziemlich am Anfang auf dem Weg zum Produkt - was gleichzeitig den Reiz des Projekts für die Forschung ausmacht.
Denn das Projekt ist eines in einer ganzen Kette von Forschungsvorhaben, die den Chemiker seit rund 20 Jahren zur Frage der Barriereschichten verfolgt, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch seine Arbeit zieht, vom Einsatz von Additiven über die Untersuchung der Wasserdampf- und Sauerstoffdurchlässigkeit bis zur Nutzung wasserbasierter Barrierebeschichtungen.
„Eine schöne Verpackung lädt zum Kauf ein. Für andere wecken Verpackungsberge eher negative Emotionen."
Die großen Herausforderungen für die Papierbranche und für die Forschung sieht Kleebauer denn auch im Zusammenwirken von Faktoren wie Ressourcennutzung, Recycling, Schadstofffreiheit und Energiebilanz, und zwar stets in Abhängigkeit von zwei weiteren Faktoren: Funktionalität und Attraktivität. Denn im Guten wie im Schlechten sind Verpackungen immer auch Emotion: „Eine schöne Verpackung lädt zum Kauf ein. Doch muss sie natürlich auch funktionieren, von der Faserstoffaufbereitung bis zum Falzen. Für andere wecken Verpackungsberge eher negative Emotionen.“
Gerade weil klassische Kunststoffe hier so viele Pluspunkte in Sachen Funktionalität und Attraktivität bieten, haben sie jahrzehntelang geboomt und sehen sich nun mit einem Imageproblem konfrontiert, das sich auswirkt bis in Ausbildung und Hochschulen hinein, wo die Branche über einen Schwund an Nachwuchskräften klagt. Gegenüber der Kunststoffindustrie ist die Papierbranche da momentan klar im Vorteil. Doch die Branchen gegeneinander auszuspielen, verbietet sich für Kleebauer. Dazu sei die Symbiose zwischen Papier und Kunststoff zu eng. Beide Materialien hätten immer auch voneinander profitiert. Nachwuchssorgen für die Papierbranche macht er sich trotzdem und betont die Bedeutung beruflicher Weiterqualifizierung von Fachkräften. Der Diplom-Chemiker, selbst Sohn eines Handwerkers, muss es wissen, unterrichtet er doch in verschiedenen Fächern Papierverarbeitungstechnik in München, sowohl an der Alois-Senefelder-Schule wie auch in der Dualen Ausbildung zum Meister. Das gelegentliche Pendeln zwischen Heidenau, wo er auf dem Land wohnt, und Bayern, nimmt er dafür in Kauf. Sein Wissen an die junge Generation weitergeben, das möchte er unbedingt weiter und noch mehr machen. Die junge Generation, sie ist in seinen Augen ökologisch bewusster als die Vorgängerin. Das sei das Ergebnis der Erziehung.
Bei allem Bemühen um gute Barrieren, manchmal kann für Verpackungen auch das Gegenteil gut sein, ein Miteinander von Inhalt und Hülle, Verpackung und Produkt. Das war Stoßrichtung des EU-Projekts HumidWrap – FeuchtePack, an dem Kleebauers PTS-Team mit deutschen und internationalen Partnern gearbeitet hat. Ziel: Konzepte zur Steuerung der inneren Feuchtigkeit in Verpackungen auf Papier- und Kunststoffbasis zu entwickeln. Mit einer Steuerung, die dem Produkt die nötige Feuchtigkeit möglichst gut verfügbar macht. Getestet haben die Forschenden das an Brot. „Es stellte sich heraus, dass der Gewichtsverlust durch Brot geringer war als in einer handelsüblichen Referenzverpackung. Die Brotkruste war weniger trocken und der Frische-Eindruck war nach 24 Stunden besser erhalten“, heißt es im Endbericht. Es hört sich nach einer viel versprechenden Innovation an, doch fehlt es dem 2020 abgeschlossenen Projekt noch an einer zählbaren Industrieverwertung.
Der viel beschworene Transfer, er stellt sich hier wie auch bei anderen spannenden Produktlösungen nicht immer auf Knopfdruck ein. „Wir haben in HumidWrap recht gute vorwettbewerbliche Grundlagen erarbeitet, um zu marktfähigen Lösungen zu kommen. Es ist eines dieser Projekte, bei denen ich ein gutes Gefühl habe, dass sich daraus langfristig noch einiges entwickeln wird“, sagt Markus Kleebauer. „Ich kann warten, aber wenn ich das Gefühl habe, der richtige Zeitpunkt ist gekommen, lege ich auch gern los und bin dann sehr entschlossen.“ Er habe noch viel vor. Wie damals in München, nach dem Vorstellungsgespräch an der PTS.
Stand: November 2021
Autor: Alexander Knebel