Hans Georg Geus (technischer Leiter und Mitglied der Geschäftsführung Reifenhäuser Reicofil), Dr. Heike Illing-Günther (Forschungsleiterin am STFI) und Bernd Gulich (Leiter des Kompetenzzentrums Vliesstoffe) vor der Spinnvliesanlage Reicofil® 4.5 am STFI (von re). Bildquelle: STFI

Die DDR-Führung gab das Einkaufen in den Intershops für die eigene Bevölkerung frei, der erste Ölpreisschock prägte die Weltwirtschaft und Jürgen Sparwasser sorgte im Hamburger Volksparkstadion für das Tor im einzigen deutsch-deutschen Duell der Fußballgeschichte.

Das sind nur einige globale und gesamtdeutsche Koordinaten, in denen sich die Menschen in Deutschland im Sommer 1974 bewegten. Innerdeutsch war nicht nur sportlich und politisch viel in Bewegung, sondern auch wirtschaftlich. Angesichts zunehmender Verschuldung führte der Devisenbedarf der DDR zu neuen wirtschaftlichen Aktivitäten, so auch in Sachsen.

Dort erwarb der Vorgänger der Troisdorfer Firma Reifenhäuser Reicofil GmbH & Co. KG von einem der Vorläuferinstitute des Sächsischen Textilforschungs-instituts (STFI) eine Lizenz zur Herstellung von Spinnvlies, einer kommerziell sehr wichtigen Textilgruppe.

Je nach Verfahren und Rohstoffen lassen sich aus Spinnvlies Medizin- und Hygieneartikel ebenso wie Kleidungsstücke oder auch technische Textilien z.B. für den Haus- oder Fahrzeugbau fertigen.

Die Forscher aus Sachsen hatten ein neues Verfahren zur Herstellung von Spinnvliesstoffen entwickelt, das sogenannte Saugluftverfahren, das nun in den Westen ging.

Vom Saugluft-Patent für den Westen zum internationalen Technikum
„Der Verkauf dieser Lizenz und die politische Umwälzung 1989 waren der Beginn einer so nicht absehbaren Erfolgsgeschichte für beide Seiten“, bilanziert Wolfgang Schilde, bis 2018 Leiter des Kompetenzzentrums Vliesstoffe am STFI. Denn Reicofil kombinierte mit der erworbenen Lizenz das Saugluft- mit dem bis dato am Markt vorherrschenden Druckluftverfahren und erschuf somit eine neue Technologie. Die daraus hervorgehenden Reicofil-Spinnvliesanlagen entwickelten sich zum weltweiten Marktführer.

Zugleich legte der Verkauf der Saugluft-Lizenz 1974 den Grundstein für eine fruchtbare Kooperation. Das STFI, 1992 aus zwei sächsischen Forschungseinrichtungen entstanden, forschte stetig an Verfahrensoptimierungen, besaß lange Zeit aber nur eine Laborspinnvliesanlage für Versuche. Auf Grundlage der vorhandenen Ressourcen schufen die Chemnitzer im Jahr 2000 das Kompetenzzentrum Vliesstoffe. Man entschied, die Vliesstoffe künftig als Hauptforschungsfeld des Institutes noch stärker zu verankern.

Bestärkt wurden die Chemnitzer, als Reifenhäuser Reicofil im Jahr 2005 einen Partner für gemeinsame Entwicklungsarbeiten suchte, was schließlich in einer engen Kooperation mit dem STFI mündete. Das STFI wurde in die Verfahrensentwicklung der Rheinländer für Polyester eingebunden. Vor diesem Hintergrund unterstützte die Firma Reifenhäuser Reicofil gemeinsam mit weiteren Textilmaschinenbauunternehmen die Anschaffung einer Reicofil® 4.0-Anlage am STFI in Chemnitz.  „Das STFI wurde somit zum Transmissionsriemen für die beteiligten Unternehmen, wovon alle Partner profitieren“, sagt Schilde. Am STFI wurde damit die Weitsicht belohnt, mit der man frühzeitig in die Spinnvlies-Forschung eingestiegen war.

Die heutige Attraktivität des Technikums am STFI spiegelt sich in den Zahlen der Kundenversuche wider. Das STFI verzeichnet bei Spinnvlies jährlich mehr als 60 Industriekunden, davon mindestens 43 international. Zudem wird eine Vielzahl an öffentlich geförderten Forschungsprojekten bearbeitet. Zahlen, die vor allem durch die erfolgreiche Kooperation mit der Fa. Reifenhäuser Reicofil GmbH & Co. KG ermöglicht wurden. Kürzlich wurde die Anlage am STFI mit einem Update auf die Generationsstufe 4.5 gehoben, womit sie weiterhin auf dem neuesten Stand der Technik ist.

 Spinnvlies STFI Bildquelle STFI Beitrag 3

Spinnvlies vom STFI aus Chemnitz. Bildquelle: STFI

"Die langjährige Zusammenarbeit mit der Firma Reifenhäuser hat viel dazu beigetragen, dass sich das Kompetenzzentrum Vliesstoffe am STFI zu einem weltweit etablierten Forschungszentrum entwickelte“, bilanziert Dr. Heike Illing-Günther, heutige Forschungsleiterin am STFI. „Für Spinnvliesstoffe bestehen aufgrund der Möglichkeiten zur Flächengestaltung und Materialkombination exzellente Zukunftsaussichten, die durch Produkt- und Materialinnovationen weiter ausgebaut werden können“, betont Dr. Illing-Günther.

Gemeinsame Forschung von STFI und Unternehmen
„Das Spinnvliestechnikum am STFI ist in seiner Komplexität in der europäischen textilen Forschungslandschaft einmalig. Es bietet den Kunden zahlreiche Möglichkeiten, insbesondere für die Vliesstoffverfestigung und Verarbeitung zweier Polymerkomponenten in einem Filament (Biko-Technologie). Die Anlage ermöglicht es den Kunden, gemeinsam mit dem Forscherteam des STFI, neue Verfahren zu entwickeln, Prozesse zu verfeinern und neue Produktideen zu testen“, erläutert Illing-Günther.

Als Mitglied die Zuse-Gemeinschaft ist das Engagement des STFI in Sachen Spinnvlies und die erfolgreiche Kooperation mit Reifenhäuser Reicofil im 30. Jahr des Mauerfalls ein Erfolgsbeispiel für Forschung im vereinten Deutschland. Über Ländergrenzen hinweg sind die mehr als 70 Mitglieder des Forschungs­verbundes im effizienten Technologietransfer von der Forschung in die Unternehmen engagiert.

Stand: September 2019