Veterinäre der Klinik für Klauentiere aus der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig und Ingenieure aus Chemnitz bündeln ihre Kompetenzen zur Unterstützung sächsischer Betriebe bei der Digitalisierung und Automation in der Rinderhaltung. Am 10. März 2023 wurde am ICM - Institut Chemnitzer Maschinen- und Anlagenbau e.V. der Startschuss für das Innovationsnetzwerk „DIEKUH“ gegeben. In den nächsten fünf Jahren sollen über dieses Format zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte initiiert werden. Am Beispiel der Rinderhaltung werden, stellvertretend für die moderne und nachhaltige Tierhaltung, innovative Konzepte, Technologien und Technik entwickelt, welche den notwendigen Schritt hin zur klima- und ressourcenschonenden sowie wirtschaftlichen, tierwohlorientierten, regionalen Tierproduktion unterstützen. Kleine und mittelständische Landwirtschafts- und Industrieunternehmen können sehr gern dem Netzwerk beitreten oder ihre Problemlagen in die Diskussionen einbringen.
Der Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung und die daraus resultierenden Klimaziele erfordern auch von der heimischen Land- und Viehwirtschaft einen entscheidenden Beitrag. Laut Dr. Sebastian Ortmann, dem Institutsleiter des ICM e.V., kann dieser Beitrag nur mit einer Kehrtwende – wieder hin zu regional angepassten Produktionseinheiten und regionalen, resilienten Kreisläufen – gelingen. Das Gebot der Effizienz auf Basis von Skaleneffekten - je größer, desto besser - lässt sich beim aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik nicht weiter aufrechterhalten.
Damit spricht der Chemnitzer Ingenieur aus, was sich Prof. Alexander Starke, Tierarzt und Direktor der Klinik für Klauentiere der Universität Leipzig, schon lange wünscht. Es braucht vor allem moderne Werkzeuge in Hard- und Software (z.B. Sensorik, Robotik, Künstliche Intelligenz), welche die flexible Automatisierung auch in kleinteiligen, land- und viehwirtschaftlichen Produktionseinheiten wirtschaftlich ermöglichen. Hier bietet sich die Analogie zur industriellen Güterproduktion an, wo das ICM Chemnitz seit Jahren Kleinserien oder kundenindividuelle Produktion (Losgröße 1) im Mittelstand erfolgreich automatisiert. Zur inhaltlichen Ausrichtung der geplanten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten haben Dr. Ortmann und Prof. Starke mit ihren Teams eine Vision für den modernen, regionalen Milchviehstall im Jahr 2030 entwickelt.
Der Milchviehstall 2030 ist ein Netzknoten, der technisch modular aufgebaut ist und ideale Bedingungen für eine definierte Anzahl Rinder und Arbeitskräfte sowie kurze Wege bietet. Da sich das Tierwohl sowohl auf die Qualität der Produkte (Milch, Fleisch, Leder) als auch auf die Prozesseffizienz auswirkt, werden die Haltungsbedingungen (z.B. Tageslicht, Frischluft, Raum zum Liegen, freie Bewegung, soziale Kontakte) entsprechend angepasst. Intensiver Einsatz von Sensorik und weiteren modernen technologischen Ansätzen hilft, Krankheiten und Stress bei den Tieren zu detektieren und dadurch die Entwicklung von einer reaktiven Erhaltung von Tiergesundheit und Tierwohl hin zu nachhaltiger Proaktivität zu realisieren. Digitale Akten und künstliche Intelligenz unterstützen nicht nur das Herdenmanagement, sondern sind auch Basis für zielgerichtete tierpflegerische/zootechnische oder tierärztliche Maßnahmen des produktionsbegleitenden Tiergesundheitsmanagements. Pauschale Medikamentenabgabe gehört der Vergangenheit an. Sämtliche Interventionen, angefangen vom Füttern/Tränken über das Entmisten und Melken bis hin zur Reinigung und Pflege der Tiere sind hochautomatisiert. Die Arbeitsplätze im Milchviehstall 2030 sind modern und hochtechnisiert. Alle energetischen Reserven, angefangen von der Temperaturdifferenz der Milch (38°C beim Verlassen des Euters bis 4°C Lagertemperatur) über die Verstromung tierischer Abprodukte (Gülle) bzw. des Einstreumaterials und Restfutters bis hin zur Nutzbarmachung der Energie des Methangases (Ausdünstungen der Kühe) werden ganzheitlich erschlossen und decken unterstützt durch Wind- und Sonnenkraft den Energiebedarf des Milchviehstalls vollständig autark. Als regionaler Knoten und in Abhängigkeit von der Größe können dem Milchviehstall 2030 weitere Module wie z.B. eine mobile/stationäre Schlachtung/Zerlegung oder Milchtankstelle bzw. Molkerei angeschlossen werden. Hier ist die Vernetzung zu regionalen Partnern (z.B. Fleischerei, Handel und Gastronomie) und ggf. Endverbrauchern denkbar und damit die Ausrichtung an regionalen/lokalen Bedürfnissen. Auch die Vernetzung mit regional agierenden Hofläden/Vermarktern kann implementiert werden.
Das Netzwerk ist gefördert durch: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Pressemitteilung des ICM vom 15.03.2023.