Mitten in der Pandemie reist Anke Krämer für zehn Wochen nach China, um am Aufbau einer gigantischen Polycarbonat-Anlage mitzuwirken. Zurück am TITK im thüringischen Rudolstadt, steht die Wissenschaftlerin auch einen Monat später noch im ständigen Kontakt mit ihren Kollegen in Fernost. So lange, bis alles planmäßig und fehlerfrei läuft. „Dinge, die mich interessieren, mache ich entweder ganz oder gar nicht“, sagt die 49-Jährige über ihre Motivation.
In welche Richtung es beruflich einmal gehen würde, war Anke Krämer schon frühzeitig klar. Der Chemieunterricht übte in der 8. Klasse eine solche Faszination auf sie aus, dass sie der Lehrerin noch heute die „Schuld“ an ihrer Karriere gibt. Unbekannten Substanzen auf den Grund gehen – das war damals schon das Größte für sie. Heute ist genau das ihre Profession: als Leiterin der chemischen Analytik in der TITK-Gruppe. „Wir prüfen Erzeugnisse, die im Wesentlichen im Bereich der Verbraucher-Produkte auf den Markt gebracht werden sollen. Nicht nur fertige Gebrauchsartikel, sondern auch ihre Ausgangsmaterialien“, fasst Anke Krämer zusammen.
Der Weg bis hierhin verlief anfangs recht geradlinig: Abitur 1989 zu Hause im sächsischen Riesa, dann Suche einer passenden Hochschule für ein Chemie-Studium, schließlich Einschreibung an der traditionsreichen Friedrich-Schiller-Universität in Jena. „Das Studienende 1994 fiel gerade in eine etwas schwierige Zeit für junge Leute, die einen Job suchen“, denkt Anke Krämer zurück. Doch ihr Diplom-Vater vermittelte ihr eine Stelle in einem neu gegründeten Jenaer Unternehmen. Dort konnte sie sich voll und ganz der Forschung an ihrem Lieblingsthema widmen – der Chromatographie. Bei diesem speziellen Analyseverfahren werden Stoffgemische in ihre Einzelteile zerlegt, damit man diese separat bestimmen kann.
Anke Krämer blieb also in Thüringen „hängen“, lernte ihren Mann kennen, gründete eine Familie, bekam zwei Kinder. Bis nach 14 Jahren die Zeit für einen beruflichen Neuanfang gekommen schien. Das TITK Rudolstadt war ihr bereits aus Forschungsprojekten und dem Familienumfeld bekannt. Nun wurde genau dort eine Stelle für die „Gruppenleitung organische Analytik“ angeboten. „Mensch das passt, die suchen dich!“ stand für Anke Krämer sofort fest.
Von der Großstadt in die Kleinstadt, um beruflich weiterzukommen
Sie warf ihren Hut in den Ring, entschied sich dafür, beruflich weiter zu kommen. Mit allem, was nötig war: Umzug ins 40 Kilometer südwestlich gelegene Rudolstadt, neue Kollegen, mehr Verantwortung. Aber leider ebenso einem Schlussstrich unter ihre damalige große Passion. Fast 30 Jahre war sie in ihrer Freizeit dem Tanzsport treu geblieben, zwölf davon als Leiterin einer Jenaer Jugendformation. Und auch das mit Haut und Haaren – als Trainerin, Choreographin, Kostüm-Schneiderin und Managerin für sämtliche Auftritte in einer Person.
Heute, weitere 13 Jahre später, blickt Anke Krämer zufrieden zurück. Am TITK ist sie längst von der Gruppenleiterin zur Labor- und Bereichsleiterin aufgestiegen, führte neue Qualitätssicherungsmaßnahmen ein und weiß ein wunderbar funktionierendes Team an ihrer Seite. Sie trägt Personalverantwortung für 17 Kolleginnen und Kollegen und arbeitet mit gut 150 Stammkunden zusammen. Ihr Arbeitsalltag wird durch Dienstleistungsaufträge in der Analytik bestimmt. Die Verbindung zur industrienahen Forschung ergibt sich zwangsläufig: „Denn wir stehen so immer wieder in Kontakt mit Geschäftspartnern, die neue Produkte aus neuartigen Materialien entwickeln wollen.“ Wofür es nicht selten komplett andere oder zumindest abgeänderte Herstellungsverfahren braucht. Inklusive einer kundenspezifischen Analytik. „Unsere Kompetenz in der Materialprüfung wird auch bei der Neuentwicklung von Kunststoffen immer wichtiger“, konstatiert Krämer. Wurde hier bislang vor allem auf die physikalisch-mechanischen Eigenschaften, wie zum Beispiel Verarbeitung, Beständigkeit oder Lichtechtheit, von Materialien geschaut, gerät nun immer stärker die chemische Zusammensetzung in den Fokus. „Je komplexer die Herstellungsverfahren werden, desto intensiver muss man chemisch überwachen, wie der Kunststoff entsteht. Nur so kann man sicherstellen, dass das Endprodukt genau die gewünschten Anforderungen erfüllt.“
Analytische Verfahren für eine der weltgrößten Polycarbonat-Anlage mit konzipiert
Im Rahmen eines Forschungsprojekts unterstützte das TITK bereits 2012 die EPC Engineering & Technologies GmbH aus Rudolstadt bei der Umsetzung eines Polymerisationsverfahrens zur Polycarbonat-Herstellung. Der Ingenieurdienstleister und Industrieanlagenbauer wendet diese Erkenntnisse inzwischen weltweit im Technologie-Transfer an. So etwa in China, wo von 2013 bis 2015 die erste große Produktionslinie in der Küsten-Provinz Zhejiang errichtet wurde. Anfang 2021 folgte eine zweite Anlage in der gleichen Region. Eingebettet in einen mächtigen petrochemischen Komplex mit einer Gesamtfläche von 40 Quadratkilometern, gilt sie als eine der größten Polycarbonat-Anlagen der Welt. Kapazität: 260 Tonnen pro Tag. Für eine von drei geplanten Linien wohlgemerkt.
Polycarbonat ist ein lichtdurchlässiger, wärmeformbeständiger Kunststoff, dem man im Alltag häufig begegnen kann. „Das prominenteste Beispiel sind optische Speichermedien wie CDs und DVDs“, sagt Anke Krämer. Aber auch in LED-Leuchten und als Alternative zu Glas – etwa bei Brillen, Scheinwerfern oder Visieren – kommt es zum Einsatz. Im Automobilbereich wird Polycarbonat meist als Compound, also im Mix mit weiteren Materialien, eingesetzt. „Es ist ein extrem spannendes Polymer“, schwärmt Anke Krämer von den physikalischen und chemischen Eigenschaften. „Die hohe Schlagzähigkeit, gute Hitzebeständigkeit, seine Transparenz und eine vergleichsweise einfache thermoplastische Verarbeitung eröffnen Polycarbonat zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten.“ Und damit einen riesigen Markt. Entsprechend groß legt man in China neue Produktionsstandorte aus.
Praxisbezug und wirtschaftliche Relevanz stehen im Fokus der Forschung
Wie wächst das Polymer? Welche Nebenreaktionen können eintreten? Wie lässt sich der Verfahrensablauf zu jeder Zeit beherrschen? – Solche Fragen stellen sich dem, der die Prozessschritte für solche Mega-Chemieanlagen mit konzipiert. Genau dafür weilte Anke Krämer nun bereits zum zweiten Mal im Reich der Mitte. Im Auftrag des Thüringer Engineering-Unternehmens entwickelte sie die analytischen Verfahren, die zur Anlagensteuerung erforderlich sind, mit und half, sie vor Ort zu implementieren. Inklusive Schulung des chinesischen Laborpersonals.
Waren dafür bei der ersten Produktionsanlage mehrere kurze Aufenthalte zwischen 2013 und 2015 erforderlich, funktionierte dies nun bei der zweiten Anlage so nicht. In Pandemie-Zeiten, in denen China-Reisende zunächst drei Wochen in Quarantäne müssen, wird das einfach unpraktikabel. So flog Anke Krämer dieses Jahr gleich für zehn Wochen am Stück ans ostchinesische Meer. Wie groß die Belastungsprobe für ihre Familie war, kann man sich denken. Doch das sieht sie als Preis dafür, wenn man mit Herzblut eine packende Aufgabe bestmöglich erledigen oder ein als unlösbar klassifiziertes Problem unbedingt knacken will. Immerhin führten diese Projekte auch dazu, dass sie mit fast 50 Jahren noch ihre Promotion in Angriff nahm. Denn jetzt hatte sich plötzlich das perfekte Thema ergeben: „Entwicklung chromatographischer Methoden zur Charakterisierung und Steuerung von technischen Polycarbonat-Prozessen“.
Die Chromatographie, speziell die Flüssig-Chromatographie (HPLC), sei gerade für die Polycarbonat-Herstellung sehr wichtig, so Krämer. „Weil man die Ausgangsstoffe und die Nebenprodukte kaum anders ermitteln kann.“ Wie sich diese Analyse-Prozesse schneller, effektiver und besser gestalten lassen – darauf will sie in ihrer Dissertation Antworten geben. Der jüngste China-Auftrag warf sie hier um einiges zurück. Dachte sie zumindest anfangs, als der neue Reisetermin stand. Doch das Gegenteil trat ein: Die Erfahrungen im Industrieanlagenbau in Fernost halfen ihr, den Blick nochmals zu schärfen. Heute weiß sie: Wissenschaftlicher Anspruch und industrieller Bedarf müssen auch in ihrer Doktorarbeit zusammengeführt werden. „Am Ende“, sagt Krämer, „ist es nun mal am wichtigsten, dass sich neue Erkenntnisse aus der Forschung in praktische Anwendungen überführen lassen.“
Autor: Steffen Beikirch, TITK
Dieses Porträt erschien zuerst in den ZUSE TRANSFERNEWS 03/2021.