Wenn Farangis Rezaei von ihrer großen Passion, dem Weltraum, spricht, dann benutzt sie am liebsten ein persisches Wort: Fasanavard. „Fasa - das ist das Weltall, der Raum, navard ist die Tat, alles hinter sich zu lassen, nach oben und nach vorne zu schauen, um Neues zu entdecken“, erklärt die junge Ingenieurin von der Forschungsgemeinschaft Werkzeuge und Werkstoffe e. V. (FGW) aus Remscheid.
In den Himmel schauen, das habe sie schon als Kind in Teheran sehr gern getan, erzählt sie, tagsüber zur Sonne und nachts zu den Sternen. Doch Farangis Rezaei war kein verträumtes Mädchen. Mit ihrem Vater teilt sie die Leidenschaft für Zahlen. Nach dem Schulabschluss studiert sie Mathematik und Statistik in Teheran. Da ist sie 20.
Weil sie die Begeisterung für den Weltraum nicht loslässt, geht sie den nächsten Schritt, um ihre Passion zum Beruf zu machen – und zieht 17 Breitengrade weiter nach oben auf dem Erdball, nach Deutschland, tauscht den oft Smog-verhangenen, doch meist sonnigen Himmel über Teheran im Hotel Mama gegen ein Zimmer bei Verwandten aus der Heimat im windigen Hessisch-Oldendorf im Weserbergland. Sie lernt Deutsch für die Uni im 50 km entfernten Hannover, macht zwei Studienabschlüsse.
Zehn Jahre später steht sie als Forscherin der FGW beim Werkzeugherstel-ler August Blecher GmbH & Co. KG neben einem Kreissägeblatt mit zwei Meter Durchmesser – für Laien ein futuristisch anmutendes Mammut-Werkzeug. Mit Weltraum hat es aber so viel zu tun wie die Schwebebahn im benachbarten Wuppertal.
Solche Kreissägeblätter benötigt man für das Schneiden von Metall, zum Beispiel zum Sägen großer Metallrohlinge, die später gefräst werden. Sie sind das Herzstück der Maschine. Ihre Produktion, Wartung und Reparatur ma-chen viel Arbeit und sind teuer. Fallen den Sägeblättern ohne Vorwarnung die Zähne aus oder werden sie vor der Zeit stumpf, drohen Qualitätseinbußen oder gar Produktionsausfälle.
Um das zu vermeiden macht sich auch die Werkzeugbranche Methoden der Industrie 4.0 – Stichwort Künstliche Intelligenz – zu eigen. Mitten drin: Farangis Rezaei. Für sie ist das Sägeblatt Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit an der FGW geworden, seit sie dort im Herbst 2018 einstieg. Sie betreut dort das von der Europäischen Union geförderte Forschungsprojekt „SmartCut“.
Mehr als um kluge Schnitte geht es bei dem Projekt um neue Methoden für das Monitoring, die vorausschauende Wartung – Neudeutsch Predictive maintenance - und die Steuerung von Maschinen.
Künstliche Intelligenz für Maschinen
„Unser Forschungs-Team mit rund 20 Expertinnen und Experten aus Universität, angewandter Forschung und Unternehmen entwickelt mit Hilfe Künstlicher Intelligenz ein Prognosetool, das uns sagt, wann der optimale Zeitpunkt für die Wartung der Sägeblätter gekommen ist. Unser Tool soll den Schnittprozess kontinuierlich beobachten und auswerten, so dass wir Rückschlüsse auf den Zustand der Sägeblätter ziehen können“, sagt Farangis Rezaei. Sägen simulieren ist sehr kompliziert, denn es wirken eine Vielzahl von Kräften und Spannungen. „Deshalb bauen wir Sensoren, die uns Hinweise darauf geben sollen, was in der Maschine vor sich geht“, erklärt sie.
Für die Werkzeugmaschinenbranche kann das ein Quantensprung sein. Farangis Rezaei arbeitet bei SmartCut an der FGW sozusagen an der Rocket Science für Sägeblätter.
Das Ziel lautet: Künstliche Intelligenz entwickeln, damit die Maschinen den richtigen Zeitpunkt zum Sägeblattwechsel signalisieren. Diese Intelligenz der Maschinen als Fernziel ihrer Arbeit ist es auch, was Farangis Rezaei am Projekt SmartCut so reizt.
Empfindliche Kameras für robuste Maschinen
Doch bevor KI auf die Sensoren zugreift, geht es erst einmal ans Daten sammeln, und das hat seine Hindernisse. So will das Team herausfinden, was eine Vorhersage über Verschleißmerkmale und den Zustand der Sägezähne anhand von optischen Aufnahmen bringt und ob es überhaupt sinnvoll ist, optische Systeme in die Maschine einzubauen. „Die bei der Produktion entstehenden und herumfliegenden Späne erschweren das Sammeln optischer Daten“, sagt Rezaei. Doch das Repertoire an Sensoren ist groß. Neben Kameras sollen u.a. auch Vibrationssensoren zum Zuge kommen, die Schwingungen aufnehmen.
„Außer Planeten und ihren Monden aus unserem Sonnensystem schaue ich mir gerne die entfernten Galaxien, vor allem Doppelsterne, an."
Entfernte Galaxien im Bismarckturm
Und jenseits der Kameras für SmartCut hilft die Weitsicht aufs ferne Ziel Weltraum. Das ist in Remscheid nicht weit. Der Bismarckturm über der Stadt beherbergt auch die Sternwarte. „Außer Planeten und ihren Monden aus unseren Sonnensystem schaue ich mir dort gerne die entfernten Galaxien vor allem Doppelsterne an, die ich mit dem normalen Teleskop von zuhause aus nicht sehen kann“, erzählt Farangis Rezaei.
Künstliche Intelligenz für traditionelle Industrien
Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit hat sie in den vergangenen Jahren auch als Lehrerin und Autorin gearbeitet, so für die Europäische Fernhochschule Hamburg. „Ich habe von Anfang an die deutsche Sprache gemocht.“ Dass sie sich die Sprache hervorragend angeeignet hat, kommt ihr in der Wissenschaft und in der Praxis zugute. Bei Smart Cut entwickelt sie Lösungen zusammen mit dem Sägeblatthersteller August Blecher aus Remscheid, dem Software-Spezialisten Böhme & Weihs Systemtechnik aus Wuppertal einem für die Messtechnik zuständigen Ingenieurbüro und der Uni Wuppertal. Das riesige Sägeblatt ist für die Forschungspartner ein Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung der Werkzeugindustrie.
Die hat in Remscheid eine lange Geschichte, wo schlechte Böden für die Landwirtschaft, doch reichlich Wasser für die Mühlen der Industrialisierung auf die Beine halfen. 150 Jahre später prägen die Werkzeugproduktion und ihre Spinoffs in Industrie und Dienstleistungen weiterhin die Stadt – und die Forschungsarbeit der FGW. Sie mag die alte Industrie- und Handelsstadt im Bergischen Land, sagt die Iranerin, die nahen Stauseen und die Wälder im Süden und Osten, dem Ruhrgebiet im Norden, dem Rheinland und den Niederlanden im Westen.
Das Flair von Industrie und Arbeit in Remscheid erinnere sie auch ein wenig an den Großstadttrubel in Teheran mit seinem Staub und den Abgasen. „Ich finde Remscheid ganz cool“, sagt Rezaei, die hier auch landete, weil ihr Freund aus beruflichen Gründen in die Stadt zog. Für sie klappte es dann gleich mit dem Forschungsjob an der FGW, über den sie sich heute so wie damals freut.
Full-Time Job in der Forschung
Das war im Herbst 2018. Kurz nach ihrem Start an der FGW eröffnete ein Multiplex-Kino in der Innenstadt Remscheids. „Erst war da nur wenig los und wir dachten, na, ob das was wird? Aber jetzt sind dort immer viele Leute“, freut sich die junge Frau über den Zulauf, den die City an der Stelle in Sachen Kultur bekommen hat. Da merkt man ihr die Großstädterin an, auch wenn sie in ihrer Freizeit gern per Fahrrad die Natur rund um Remscheid genießt – für die mit einem Fulltime-Job in der Forschung wenig Zeit bleibt.
Bringt die Begeisterung für den Weltraum eine andere Zeitrechnung mit sich? „Wenn wir neue Planeten entdecken wollen, brauchen wir heute noch unbekannte, viel schnellere Fahrzeuge“, sagt sie. Ihre Lieblingsobjekte im gesamten Universum seien immer noch die Schwarze Löcher, „vielleicht ein Tor zu einer anderen Welt“.
Zehn Jahre sind vergangen seit der Ankunft in Deutschland – in Hessisch Oldendorf im Herbst, wenn die Tage kürzer und kälter werden im Weserbergland und das Heimweh ein Begleiter werden kann.
Zehn Jahre im Zeitraffer
Was ihr nach ihrer Ankunft in Deutschland half, war auch die aus dem Iran mitgenommene Begeisterung ihres Vaters für Deutschland. Der hatte viele Talente: Eigentlich Mathematiker und Ingenieur spielte er in Deutschland einige Zeit als Fußball-Profi bei Göttingen 05, erzählt Farangis Rezaei, und hatte hohe Ansprüche an seine Arbeit.
Wie seine Tochter. Dann fiel sie in Hannover durch die erste Aufnahmeprüfung an der Uni. Beim nächsten Mal klappte es. Mit dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens für Elektrotechniker suchte sie sich kein leichtes Fach aus. Und beim doppelten Durchfallen durch eine Prüfung drohte Exmatrikulation und Verlust der Aufenthaltsgenehmigung. So weit kam es nicht.
Sie wurde Absolventin der Leibniz-Universität in Hannover. Und erfüllte sich mit dem Masterstudiengang in der Luft- und Raumfahrttechnik in Braunschweig ihren Traum und einige der selbst gesteckten Ziele.
Narvad. Die Tat, alles hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen, das passt auf die weltraumbegeisterte Forscherin im doppelten Sinne: Hinter sich gelassen hat Farangis Rezaei in den vergangenen zehn Jahren viel. Und hat viel erreicht: Persisch ist ihre Muttersprache, doch sind Deutschland und die deutsche Sprache für Farangis Rezaei zur zweiten Heimat geworden. Kürzlich hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt.
Aufgezeichnet von Alexander Knebel, Pressesprecher
Dieser Beitrag erschien in den ZUSE-TRANSFERNEWS 02/2020.