Als Anastasia Bayer im Mai 2010 als Laborleiterin ans fem Forschungsinstitut Edelmetalle + Metallchemie in Schwäbisch Gmünd kommt, ist ihr Arbeitsplatz im Untergeschoss des neuen Applikationstechnikums noch leer: Ihr Labor befindet sich im Rohbau, und ihr wichtigstes Arbeitsgerät, ein tonnenschwerer Compu-tertomograph, wird beim Hersteller gerade für den Versand vorbereitet.
„Ich hatte damals auf der Website des fem die Stellenanzeige entdeckt und mich sofort beworben, obwohl ich von der Computertomographie ehrlich gesagt nur wenig Ahnung hatte“, erinnert sich die Chemikerin. Der Institutsleiter habe sie aber trotz fehlender Erfahrung davon überzeugen können, dass sie die Richtige für die Stelle ist, und umgekehrt habe man ihre letzten Zweifel mit einem überzeugten ›Sie machen das!‹ ausräumen können. Man hat sich auf beiden Seiten nicht geirrt: seit zehn Jahren ist Anastasia Bayer nun am fem tätig und mittlerweile eine ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der zerstörungsfreien Analytik.
Computertomographie, das unbekannte Wesen
Nachdem sie sich einige Wochen lang in die Software ihres zukünftigen Werkzeugs einarbeitet hat, ist es dann endlich soweit: Die Anlage mit ihrem massiven Sockel aus poliertem Granit wird angeliefert und mit einem Kran vorsichtig durch das noch offene Oberlicht in den Laborraum gesenkt. Das halbe Institut, so erinnert sich Bayer, half damals mit, den sensiblen Computertomographen an seinen Platz zu manövrieren. Es war eine der ersten Anlagen ihrer Art, die vom Hersteller seither im Dialog mit dem fem weiterentwickelt wurde und weiterhin optimiert wird.
Für die Forscher am Institut ist die Methode genauso neu wie für die Chemikerin, die ein Jahr zuvor Ihren Bachelor an der Hochschule in Aalen absolviert hatte. „Alle waren neugierig, klar, aber keiner wusste so genau, was es mit der industriellen CT auf sich hatte. Meine Kolleginnen und Kollegen mussten die Analysemöglichkeiten erst einmal für sich entdecken.“ Die Situation heute, zehn Jahre später, ist eine völlig andere: Die Computertomographie ist aus dem Forschungsalltag nicht mehr wegzudenken. Sie sei eine Methode, die mittlerweile in fast allen Projekten zur Anwendung komme, so Bayer.
Erste Schritte: Alemannengräber, die Keltenfürstin und der Löwenmensch
In den ersten zwei Jahren am fem hat sie es aber nicht mit industriell gefertigten Bauteilen und experimentellen Proben, sondern mit völlig anderen Dingen zu tun: mit Schwertern, Armreifen und Fibeln aus den Lauchheimer Alemannengräbern, dann mit dem fein gearbeiteten Goldschmuck aus dem rund 2600 Jahre alten Grab der sogenannten Keltenfürstin von der Heuneburg. Grund dafür ist die Kooperation mit dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, die seit 2010 besteht und 2019 um weitere acht Jahre verlängert wurde. Anastasia Bayer öffnet eine Tiefkühltruhe in ihrem CT-Labor und holt ein weißes, kantiges Objekt heraus: „Das bekommen wir von den Archäologen angeliefert, sogenannte Blockbergungen, das sind eingegipste Objekte oder Erdteile, in denen Fundstücke sind oder vermutet werden, die bei einer herkömmlichen Freilegung zerstört werden könnten“, erklärt sie.
Den aufregendsten Besuch aber hätten sie 2014 im Haus gehabt, da sei sie gerade in Elternzeit mit ihrer Tochter gewesen, bedauert Bayer ein klein wenig. Die Rede ist vom Löwenmenschen, einer 30 cm großen Figur aus Mammutelfenbein, deren Alter auf 40.000 Jahre geschätzt wird. Dank der Analyse im CT konnten die Archäologen nicht nur zeigen, dass die Figur falsch zusammengesetzt war, sondern auch weitere 80 Fragmente, die
bislang nicht zugeordnet werden konnten, in eines der ältesten Kunst-
werke der Menschheit integrieren.
Woher kommt das eigentlich? – die analytische Perspektive
„Eigentlich wollte ich ja Ärztin werden, Medizin studieren. Meine Mutter meint, ich hab‘ als kleines Mädchen schon gefragt: Woher kommt das eigentlich, dass man krank wird? Geworden bin ich Laborleiterin in einem Forschungsinstitut“, lacht Bayer, „aber die CT gibt’s ja hier wie dort, ich bin also nicht völlig am Ziel vorbeigeschossen.“ Nach der Realschule arbeitet sie erst als Krankenschwester, holt dann mit 23 ihr Abitur nach, weil sie eigentlich Medizin studieren wollte, begeistert sich in der Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen aber mehr und mehr für Chemie, Physik und Materialwissenschaften. Nach dem bestandenen Abitur steht fest: Statt Medizin lieber geregelte Arbeitszeiten und mehr Zeit für die Familie – aber etwas Naturwissenschaftliches soll es schon sein. So beginnt sie ihr Studium der analytischen Chemie in Aalen, macht 2009 ihren Bachelor – und bekommt dann ihr erstes Kind. „Ich wollte den Master noch draufsetzen, aber ein Kleinkind versorgen und parallel dazu Vorlesungen in Biochemie, das hat einfach nicht gepasst.“
Selbstbild: Forschungsdienstleisterin
Heute ist sie zufrieden, dass die Dinge sich anders entwickelt haben, als geplant. Die analytische Neugier, den Dingen auf den Grund zu gehen, Zusammenhänge zu verstehen, die ist geblieben: „Ich beschäftige mich mit technischen Defekten statt mit Krankheitsbildern, mit archäologischen Schätzen statt mit Knochenbrüchen, das hat ja auch sein Gutes“, schmunzelt Bayer. Um massive Objekte aus Metalllegierungen durchleuchten zu können, ist eine deutliche höhere Intensität der Röntgenstrahlung erforderlich, als in der medizinischen Computertomographie, erklärt sie. Aber Angst habe sie keine, wenn sie während einer Messung neben dem Vollschutzgehäuse aus Stahl- und Bleiwänden sitzt. Die Röntgenanlage mit ihrer 300kV-Mikrofokusröhre werde nach den gesetzlichen Vorschriften regelmäßig geprüft und ein Strahlendetektor, der Tag und Nacht neben ihrem PC seinen Dienst verrichtet, gibt ihr zusätzliche Sicherheit.
Auf die Frage, ob sie sich denn eher als Forscherin oder als Dienstleisterin sieht, antwortet Bayer diplomatisch: Als Forschungsdienstleisterin, sowohl für die Kolleginnen und Kollegen im Haus, als auch für Kunden aus der Industrie. Derzeit arbeitet sie mit ihrer Kollegin Nefa Lugonja unter anderem an zwei Projekten mit, in denen der Feinguss von Titan weiterentwickelt und die galvanische Metallabscheidung auf dreidimensional strukturierten Elektroden erforscht wird. Dabei kommt auch eine zweite, kleinere Nano-CT-Anlage zum Einsatz, die Aufnahmen mit einer deutlich höheren Auflösung liefert. Die Bilder helfen den Forschern am fem dabei, Prozessparameter zu optimieren und Strukturen räumlich zu erfassen. „Im Unterschied zur herkömmlichen Schliffpräparation, die immer nur eine Ebene sichtbar macht, sind im 3D-Modell, das aus den Einzelbildern erstellt wird, unendlich viele Schnittebenen in allen Richtungen möglich.“ Die räumliche Darstellung von Objekten, die Möglichkeit, virtuell durch sie hindurchzufliegen, Materialien mit unterschiedlicher Dichte ein- und auszublenden, das sei für sie auch noch nach zehn Jahren „einfach faszinierend“.
Aufgezeichnet von Patrick Wais, fem.
Dieser Beitrag erschien in den ZUSE TRANSFERNEWS 03/2020.